Der Weg nach Alnwick Castle ist lang und eine Übung in Entschleunigung. Die ersten 65o Kilometer führen aus der Umgebung von Frankfurt am Main nach Calais - Höchstge- schwindigkeit auf belgischen Autobahnen 12o, auf franzöischen 13o km/h. Die restlichen 65o Kilometer führen von Dover hoch in den englischen Norden, fast an die schottische Grenze - Höchstgeschwindigkeit 7o Meilen pro Stunde. Oder in Kilometer gerechnet: 112,653. Daran halten sich alle, und glauben Sie mir, auf englischen Motorways ist die Dichte an großkalibrigen Ge- schossen aus schwäbischer oder bayerischer Produktion höher als in den Parkhäusern des Frankfurter Banken- und Börsen- viertels. Dazu gesellt sich automobile Flachware aus italieni- schen Edelschmieden, der eine oder andere Lotus oder Aston Martin oder ein raumgreifender Radpanzer aus dem Hause Range Rover. Theoretisch könnten sie allesamt mit weit über hundertfünzig Sachen Richtung Norden brettern, aber alle sind sie hübsch mit 7o Meilen unterwegs. Wahrer Luxus offenbart sich eben erst in seiner zur Schau gestellten Sinnlosigkeit.
Ich sitze im Vereinigten Königreich ausgesprochen gerne am Steuer meines alten Volvo, keiner blinkt mir hyste- risch in den Rückspiegel, keiner sitzt mir im Nacken, nur weil er die M11 bei Cambridge mit der Rennstrecke von Silverstone verwechselt. Autofahren in Großbritannien ist überwiegend entspannt, Linksverkehr unproblematisch, solange ich nur wie gewohnt rechts schalten kann. Wer die Kampfzonen deutscher
  unauffällig, preisgünstig und wirksam. So und ähnlich werden in vielen Ländern Europas Ladezonen, Park- und Halteverbote ausgewiesen.
Auch die Position britischer Verkehrsampeln hat meine ganze Sympathie. Warum stehen Ampeln bei uns eigentlich immer genau so, dass sie exakt von meinem Rückspiegel verdeckt werden oder ich mir den Hals verrenken muss, um
die zweite Ampel hoch über mir zu orten? In Großbritannien ist eine von zwei Ampeln an jeder Kreuzung diagonal gegenüber aufgestellt - man hat sie ohne jede Verrenkung sicher im Blick. Sehr einfache Lösung, einfach und intelligent. Warum geht das in Deutschland nicht?
Überhaupt die Kreuzungen! Sie dienen bei uns in erster Linie dazu, bei höherem Verkehrsaufkommen aus allen Richtungen hoffnungslos zugefahren zu werden, auch wenn nicht die leiseste Chance besteht, den Kreuzungsbereich auch wieder zu verlassen, bevor die Ampelphase wechselt. Hauptsa- che erstmal drin, denn alle anderen sind ja auch drin. Es ist ein völlig sinnfreier Kampf aller gegen alle. In Nullkommanichts ist eine deutsche Kreuzung erfolgreich blockiert - ganz ohne Klima- kleber und wütende Bauern.
Auf der Insel sind Kreuzungen dagegen häufig mit einem gelben Rautenmuster markiert, soll heißen: nicht befah- ren, wenn man nicht rechtzeitig wieder runterkommt. Die soziale Kontrolle erlaubt es bei Strafe der sozialen Ächtung keinem Bri-
Autobahnen kennt, fühlt sich im Vereinigten König-
reich wie in einer Wellness-Oase.
Hin und wieder tauchen am Rand des Motorways große Schilder auf, die Schwarz auf Weiß eine altmodische Kamera zeigen: ein höf- licher Hinweis auf die nächste Radarkontrolle. Kontrolliert wird auf der Insel übrigens gnaden- los alles, überall und zu jeder Zeit. Für einfaches Falschparken werden Sie schnell mit rund 13o Euro zur Kasse gebeten (Zahlungsbefehle werden zuverlässig ins Heimatland des Verkehrssünders weitergeleitet); bei Geschwindigkeitsüber- schreitungen ist man knapp 1.2oo Euro los, bei schwerem Gasfuß gerne auch 3.ooo. Die Preise bewegen sich nicht wie in Deutschland auf Ta- schengeldniveau - vielleicht einer der Gründe für die britische Tempodisziplin.
Alnwick ist ein hübscher, kleiner Ort, den
kaum jemand kennen würde, wenn er nicht Sitz
 
© Justin Kernoghan/Belfast
von Alnwick Castle wäre, der sehr ausgedehnten,
sehr mittelalterlichen Heimstatt der Familie Percy, ihres Zei- chens Herzöge von Northhumberland. Das gewaltige Gemäuer hat schon oft als Filmkulisse gedient, unter anderem als Zau- berinternat in zweien der Harry-Potter-Filme. Vor einigen Jahren haben die Percys ihre Gärten von angesagten Designern neu gestalten lassen und als kleine Extra-Abteilung einen Poison Garden angelegt, einen Giftgarten, dessen schmiedeeiserne Tore von Totenköpfen geziert sind. Lauter harmlos aussehende Gewächse werden hier gepflegt, die es freilich in sich haben. Der Poison Garden ist ein makabrer Publikumsrenner.
Fährt man nach Alnwick hinein, fällt einem zunächst einmal gar nichts auf. Dass etwas fehlt, merkt man ja meistens erst spät oder gar nicht. In Alnwick wie im gesamten Königreich fehlt der deutsche Schilderwald - und zwar ziemlich komplett. Nichts verstellt den Blick auf die Fassaden der alten Häuser und die krummen Straßenzüge, ein Gewinn für jedes Stadtbild (oder für fast jedes: ich kenne Stadtbilder, die durch keinen Schilderwald weiter zu entstellen sind - Namen seien hier nicht genannt). Statt Schilder gibt es drüben auf der Insel weiße, gelbe und rote Streifen entlang des Bordsteins am Straßenrand,
  ten und keiner Britin, sich in der Schlange vor der Bushaltestelle oder der Supermarktkasse vorzudrängeln. Für Kreuzungen gilt das gleiche. Damit haben viele Nicht-Insulaner Mentalitätsprob- leme, aber so funktioniert es nunmal im Königreich, sehr effektiv und nervenschonend dazu.
Noch eine letzte Beobachtung, die ich immer wieder gemacht habe auf der Insel: ein freundliches Handzeichen oder Kopfnicken ist dort hinter dem Steuer viel verbreiteter als bei uns, ein kleines, wortloses Bitte sehr oder Dankeschön. Üblicherweise ist unser automobiler Alltag ja eine ziemlich kom- munikationslose Angelegenheit - ein jeder und eine jede sitzt einsam in ihrer Konservenbüchse, und plötzlich blitzt mit einer Geste ein wenig Freundlichkeit und Höflichkeit auf, diese wun- dervollen Gleit- und Schmiermittel der Gesellschaft: schau da, ein Mensch hinter der Windschutzscheibe, und ein netter dazu! Das könnte man sich doch abschauen von den Briten, oder?