HIMMELSSTÜRMER MIT ANSCHLUSSPROBLEM.

Ein Kurzbericht von den Dreharbeiten

Jeder Film beginnt mit einem Plan. Daß am Drehort dann auch alles nach Plan läuft, ist eher die Ausnahme als die Regel: irgendwas geht immer schief, dann muß Plan B aus dem Hut gezaubert werden. Bei den Dreharbeiten zu den "Himmelsstürmern von Weifang" war es genau so, nur etwas härter. Die meisten B-Pläne erreichten eine Halbwertzeit von höchstens ein paar Stunden, dann waren auch sie wieder Makulatur. Bert Brechts Lied von der Unzulänglichkeit des menschlichen Strebens ist die heimliche Hymne aller Fernsehmacher. In Weifang kam das so .....
__________Die hübsche Drachen-Geschichte lief mir das erste Mal vor einigen Jahren über den Weg, als ich für einen anderen Film in der Provinz Shandong in Ostchina recherchierte (dieser Film hatte damals übrigens seine eigenen Tücken: während der Dreharbeiten wurde mir im Hotel der Reisepaß samt Visum gestohlen, was in China einige Unannehmlichkeiten zur Folge hat, aber das ist eine eigene Geschichte). Nachdem das Exposé für die "Himmelsstürmer von Weifang" den üblichen Beratungs- und Entscheidungsmarathon in öffentlich-rechtlichen Sendern erfolgreich absolviert hatte, flog ich im April 2o12 zum internationalen Drachenfestival nach Weifang, um zu sehen, welche Bilder bei diesem Ereignis zu bekommen sind und um zwei geeignete Drachenbaumeister zu finden, die bereit wären, in unserem Film mitzuspielen. Die Zusammenarbeit mit den örtlichen chinesischen Stellen lief hervorragend: keine Einschränkungen, größtmögliches Entgegenkommen. Das Festival war sensationell: Teilnehmer aus aller Welt, herrliches Frühlingswetter, die verrücktesten Drachen am Himmel, es herrschte eine ausgelassene Volksfeststimmung unter den vielen Tausend chinesischen Besuchern. Das sah schon mal sehr, sehr gut aus und würde dem Film tolle Passagen liefern. Nachdem mit Altmeister Zhang Xiaodong und dem jungen Unternehmer Wang Yongxun zwei ganz unterschiedliche, aber gleichermaßen sympathische Charaktere gefunden waren und ihre Familien sich bereit erklärten, uns ihren Alltag begleiten zu lassen, war der Film im Kopf so gut wie fertig.
__________Im Dezember 2o12 reiste ich ein weiteres Mal nach Weifang, um alle rechtlichen und organisatorischen Fragen im Detail zu klären. Auch jetzt kamen wir zügig voran, keine Hindernisse, viel Entgegenkommen. Schwierig war allein, aus Weifang wieder weg zu kommen, es schneite von Tag zu Tag immer heftiger, am Tag meines Rückflugs nach Peking rutschten alle Starttermine nach hinten, schließlich wurden sie komplett gestrichen. Mein Anschlußflug nach Frankfurt ging aber schon am nächsten Vormittag und mein Visum lief am gleichen Abend ab. Mit viel Glück erwischten meine Dolmetscherin und ich den letzten Expreßzug von Qingdao über Weifang nach Peking, Ankunft gegen Mitternacht, und dann noch gute zwei Stunden mit dem Taxi quer durch die Hauptstadt vom Südahnhof zum Hotel in der Nähe des Flughafens, der weit im Nordosten liegt.


Chinesen sind viel flexibler als wir und kommen,  wenn sie wollen, aus dem Stand in Nullkommanichts  auf Hundert


__________
Mit unseren offiziellen chinesischen Partnern war vereinbart, daß der exakte Drehplan, ein tagesgenauer Organisationsplan sowie die komplette Liste der Ausrüstung des Teams bis Mitte Januar in Weifang vorliegen sollten. Sie lagen Mitte Januar in Weifang vor, einige Rückfragen waren schnell beantwortet. Dann trat unvermittelt Funkstille ein. Mitte März wurde meine Dolmetscherin in Hamburg allmählich unruhig, weil die Mails an unsere Ansprechpartnerin vor Ort nicht mehr beantwortet wurden; ich blieb noch halbwegs gelassen, Chinesen sind Weltmeister der freihändigen Improvisation und fangen gerne sehr spät mit dem Organisieren an. Meine Dolmetscherin, selbst Chinesin, war von der Improvisations-Weltmeisterschaft ihrer Landsleute weniger überzeugt und rief unsere beiden Drachenbaumeister direkt von Deutschland aus an. Dabei stellte sich heraus, daß beide von unserer Organisatorin vor Ort bislang überhaupt noch nicht kontaktiert worden waren und erst durch diesen Anruf erfuhren, daß wir tatsächlich im April zum Filmen kommen würden. Jetzt dämmerte uns, daß wir sehr interessanten und vermutlich auch ziemlich spontanen Dreharbeiten entgegengehen würden.
__________Wegen einer privaten Krise, so wurde uns später mitgeteilt, sei unsere verantwortliche Ansprechpartnerin vorübergehend nicht belastbar gewesen. Das war die offizielle Sprachregelung für eine Scheidung samt depressivem Schub (wir haben die - im übrigen sehr nette - Frau nie wieder zu Gesicht bekommen). Bis unmittelbar vor unserer Ankunft in China war aber offensichtlich auch niemand anderes aus ihrem Amt zu unserer Betreuung abkommandiert worden, sämtliche Vorbereitungen lagen also auf Eis. Während der Dreharbeiten muß die gesamte Organisation (Unterkunft, Transport, Genehmigungen, Verabredungen, Termine) störungsfrei im Hintergrund laufen wie das Betriebsprogramm eines Computers, damit man sich ganz auf den Film konzentrieren kann - deswegen stecken viel Zeit, Geld und Mühe in der Vorbereitung. Gut, manchmal nudelt sich auch ein Computer auf, man fährt ihn kurz herunter und startet neu, im Regelfall kein Problem. Manchmal muß auch ein ganzer Drehtag vor Ort spontan neu erfunden werden, das geschieht immer wieder ..... aber keine zwei Wochen am Stück. Der Ausfall der kompletten Organisation ist ein Totalschaden, der Supercrash.
__________Am 1o. April 2o13 flogen wir zu viert (Kameramann Dominik Schunk, Tonmann Wolfgang Horch, Dolmetscherin Sha Hua und ich) von Frankfurt über Shenyang nach Qingdao, von wo unsere Offiziellen (minus der verantwortlichen Ansprechpartnerin) uns mit dem Bus abholen sollten. Die Passformalitäten waren schnell erledigt, nicht so der Zoll. Dem lag die unerläßliche Übersetzung der Ausrüstungsliste nicht vor: ohne Liste keine Überprüfung, ohne Überprüfung keine Freigabe. Immerhin gelang es einem Mitglied unseres Empfangskomitees, bis zum Zoll vorzudringen, dessen Antwort blieb dieselbe: man brauche die Übersetzung der Geräteliste. Keine Zollstelle an irgendeinem Flughafen der Welt hätte anders reagiert. Erst wurde es Abend, dann allmählich Nacht, der Flughafen von Qingdao leerte sich, die Geschäfte schlossen, die Lichter gingen eines nach dem anderen aus, nur die Klimaanlage lief unverdrossen weiter auf Eiswürfelniveau.

 

Dann, nach einem Dutzend Telefonaten, eine Lösung: unser Empfangskomitee fotografierte die deutsche Fassung der Liste mit dem Handy, schickte sie ins Amt nach Weifang, wo sie übersetzt und beglaubigt und dann per Fax an den Zoll in Qingdao zurückgeschickt werden sollte. Nach anderthalb Stunden kam ein Fax, leider völlig unleserlich. Inzwischen lagen die Nerven aller Beteiligten blank, Müdigkeit, Hunger, Durst. Chinesen sind nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, außer sie kommen mittags um Zwölf und abends um Sechs nicht pünktlich zum Essen, dann droht Panik. Die Abendessenszeit war weit, weit überschritten. Schließlich kam ein lesbares Fax, der Zoll überflog es, machte eine kurze Stichprobe, wir waren im Land. Aber noch lange nicht im Hotel, dessen rechtzeitige Reservierung war mit der Ehe unserer Ansprechpartnerin leider auch untergegangen. Dies war der Vorgeschmack auf all das, was die nächsten zwei Wochen unserer harrte.


Manchmal weiß ich, warum ich gerne in China filme.


__________
Es muß jetzt nicht jedes kleine und größere Mißgeschick dieser vierzehn Tage in Weifang aufgelistet werden, irgendwann gewöhnt man sich daran, daß Leute, mit denen man für einen ganzen Tag verplant ist, einem mittags mit der Vorwarnzeit von einer knappen Viertelstunde mitteilen, daß sie jetzt dringend zu einem anderen Termin müssten - die nötigen Szenen sind natürlich längst noch nicht alle im Kasten und können später auch nicht nachgedreht werden. Man nimmt in stummer Demut hin, daß zu den verabredeten Testflügen der Drachen gerade weitgehend Windstille herrscht und selbst die Tricks eines ausgebufften Altmeisters kaum helfen, das Gerät länger als eine halbe Minute am Himmel zu halten (das Wetter ist immer die große Unbekannte bei allen Dreharbeiten im Freien, stets launisch, unberechenbar). Irgendwann überkommt den Regisseur auch ein fast schon fernöstlicher Gleichmut, wenn eines der Familienmitglieder trotz Zusage nicht am Drehort auftaucht und keiner im Team mehr weiß, wie die einzelnen Szenen jetzt noch aneinander passen sollen - Stichwort continuity, Anschlußproblem. Daß außerdem gleich am zweiten Drehtag am Strand von Weifang das Kamerastativ von einem Bulldozer gerammt wurde, während Kameramann Dominik Schunk ein paar Schritte weiter eine Szene von der Schulter drehte, war sicherlich auch kein wirklich gutes Omen. Das Stativ trug einen Beinbruch davon, wurde umgehend mit Lassoband notversorgt und war für den Rest der Drehzeit nicht mehr zur vollen Höhe auszufahren.
__________Eines kann aber gar nicht genug gelobt werden: das großartige Entgegenkommen der beiden Familien und die chinesische Begabung zu spontaner Problemlösung. Ich bin sicher, unter den gegebenen Voraussetzungen - dem anfänglichen Fehlen jeglicher Organisation vor Ort - wäre dieser Film in Deutschland kaum noch innerhalb der gegebenen Drehzeit zu stemmen gewesen. Chinesen sind viel flexibler als wir und kommen, wenn sie wollen, aus dem Stand in Nullkommanichts auf Hundert. Nur ein Beispiel von vielen, die wir in Weifang erlebt haben: wir wollten Shuqi, die Enkelin von Meister Zhang Xiaodong, auch in ihrer Schule filmen, so war es im Dezember vereinbart worden, geriet aber in Weifang danach in Vergessenheit. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden wurde der Dreh neu organisiert, inklusive Drachenunterricht und Ausflug ins Museum - ich möchte mir nicht ausmalen müssen, wieviel bürokratischen Vor- und Hindernislauf wir in Deutschland zu bewältigen gehabt hätten, von den allfälligen Bedenkenträgern innerhalb der Elternschaft ganz zu schweigen ("Ich möchte nicht, daß mein Kind ins Bild kommt, sorgen Sie dafür, sonst erhebe ich Einspruch beim Schulamt, dann können Sie Ihren Film in der Pfeife rauchen!"). Vermutlich hätten wir aus rechtlichen Gründen hierzulande sowieso jedes einzelne Kindergesicht in der Klasse verpixeln müssen, das heißt: wir hätten die ganze Szene genau so gut wegschmeißen können. Manchmal weiß ich, warum ich gerne in China filme.
__________Daß das krönende Schlußkapitel des Films, das große Drachenfestival von Weifang 2o13, zwar nicht ins Wasser fiel, dafür aber knöcheltief in Schnee und Schlamm versank, hatte dann aber doch leicht tragikkomische Züge. Dreißig Jahre lang lachte die Sonne über dem Festival, ein ehernes meteorologisches Gesetz. Noch im Vorjahr, bei meiner Recherche, war es am Eröffnungstag 25 Grad warm. Diesmal war das Festivalgelände ein einziges Winterbild. Mir schwante schon nichts Gutes, als wir am Vorabend späte Aufnahmen in der Stadt drehten und der Regen nicht mehr richtig an der Windschutzscheibe unseres Busses ablief, sondern an den Scheibenwischern zu klumpen begann - Graupelschauer. Die Abendbilder in verwischten, verschwommenen Farben, die Spiegelungen auf dem nassen Asphalt waren ausgesprochen stimmungsvoll, an den nächsten Morgen getraute sich keiner zu denken.
__________Aufstehen kurz vor Fünf in der Frühe, der erste Blick aus dem Fenster: die perfekte Katastrophe, Weifang in Weiß, Schneeweiß. Luqi, der Sohn von Unternehmer Wang Yongxun, wurde an diesem schrecklichen Morgen nicht gesichtet, obwohl wir ihn dringend gebraucht hätten; Vater Wang Yongxun selbst war als Begleiter eines hohen Offiziellen auf die Ehrentribüne abkommandiert worden - was uns vorher natürlich niemand mitgeteilt hat. Am Handy war der Mann nicht zu erreichen, das Festivalgelände war außer von Schnee auch von einem Lärmteppich zugedeckt, aus riesigen Lautsprecherbatterien dröhnte festesfrohe Musik in der Dezibelstärke eines startenden Düsenjets, man verstand sein eigenes Wort nicht mehr, wie hätte man ein Handy in der Hosentasche klingeln hören können? Altmeister Zhang Xiaodong hatte sichtbar schlechte Laune wegen des Dreckwetters und packte seinen Paradedrachen gar nicht erst aus, Enkelin Shuqi schlotterte tapfer an Opas Seite, die fröhlichen Menschenmassen vom Vorjahr blieben überwiegend lieber zuhause im Warmen, es war zum Verrücktwerden. Während ganz allmählich Schneewasser in unsere Schuhe sickerte, drehten wir was immer uns vor die Kamera kam, um aus dem Material zuhause doch noch so etwas wie ein ansprechendes Schlußstück schneiden zu können. Zu ändern war sowieso nichts mehr: manchmal muß man das Leben einfach nehmen und filmen wie es ist. Auch wenn es ganz anders daher kommt als zuvor im Drehbuch stand, siehe Bert Brecht:

Ja, mach nur einen Plan
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch 'nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.

zurück zur Auswahlseite